Wenn das BEM zweckentfremdet wird
Dieser Beitrag richtet sich an Unternehmen, die das BEM im Sinne des Gesetzgebers ernst nehmen und es als Chance für nachhaltige Rückkehrprozesse verstehen. Ziel ist es nicht, das BEM zu delegitimieren oder als reines Kontrollinstrument darzustellen, sondern aufzuzeigen, wie ein professionell strukturiertes und rechtskonformes BEM auch dann wirksam bleibt, wenn es in Einzelfällen missverstanden oder zweckentfremdet wird. Denn: Ein starkes BEM schützt nicht nur Mitarbeitende, sondern auch Arbeitgeber vor Fehlentwicklungen, die beide Seiten gefährden könnten.
In vielen Unternehmen ist das BEM als zentrales Instrument zur nachhaltigen Wiedereingliederung etabliert. In einem aktuellen Praxisfall schilderte ein Unternehmen, dass mehrere Mitarbeitende zunehmend das BEM nutzten, um interne Versetzungswünsche zu adressieren. Innerhalb der Belegschaft hatte sich offenbar herumgesprochen, dass BEM-Gespräche als Plattform für solche Anliegen verstanden werden könnten – was zu einer häufigeren Erwartungshaltung in diese Richtung führte. Was auf den ersten Blick nachvollziehbar erscheinen mag, birgt bei unreflektierter Handhabung erhebliche juristische und strategische Risiken – sowohl für Arbeitgeber als auch für die Fallverantwortlichen im BEM.

Der BEM-Fall: Wunschkonzert statt Reintegrationsstrategie
Ein Unternehmen mit 950 Mitarbeitenden meldet sich im Rahmen einer Inhouse-Schulung. Die Geschäftsführung berichtet, dass das BEM zunehmend als Vehikel zur Durchsetzung persönlicher Versetzungswünsche verwendet wird – etwa in andere Abteilungen, in mobile Arbeitsformen oder in vermeintlich entlastende Tätigkeiten. Ziel sei dabei nicht primär die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, sondern ein Wechsel der Arbeitsbedingungen.
Die Beobachtung: In vielen Fällen schätzen sich BEM-Berechtigte unrealistisch ein. Gleichzeitig reagieren BEM-Verantwortliche entweder vorschnell zustimmend oder reflexartig ablehnend – beides ist fachlich und rechtlich problematisch.
Rechtliche Grundlage: Ergebnisoffenheit ist verbindlich
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) betont in ständiger Rechtsprechung, dass das betriebliche Eingliederungsmanagement ein ergebnisoffener Suchprozess ist. Daraus ergeben sich zwei klare Pflichten:
- Der Arbeitgeber muss alle ernsthaft in Betracht kommenden Maßnahmen prüfen, um das Arbeitsverhältnis zu erhalten (§ 167 Abs. 2 SGB IX).
- Mitarbeitende haben keinen Anspruch auf bestimmte Maßnahmen – sie können Vorschläge einbringen, nicht aber einfordern.
Eine Versetzung kann zu den geeigneten Maßnahmen gehören, ist jedoch stets auf ihren Zweckbezug zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit zu prüfen.
Fehlerquelle Nr. 1: Unbedachte Gesprächsverläufe
BEM-Fallverantwortliche begehen häufig den Fehler, im Erstgespräch Aussagen zu treffen wie:
„Versetzungswünsche und unbesetzte Stellen klären Sie bitte mit HR.“
Solche Aussagen können dem Sinn des BEM zuwiderlaufen. Denn sie signalisieren, dass zentrale Aspekte vorschnell ausgeklammert werden, anstatt sie im Rahmen des gesetzlich geforderten Prüfprozesses zu berücksichtigen.
Ein vorschnelles Abblocken kann dazu führen, dass das gesamte Verfahren im Streitfall als unzureichend oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt gewertet wird – mit entsprechenden rechtlichen Konsequenzen.
Fehlerquelle Nr. 2: Unkritische Erfüllung von Erwartungen
Ebenso kritisch ist es, wenn BEM-Wünsche ungeprüft übernommen werden. Hier drohen gleich mehrere Risiken:
- Rechtliches Risiko: Ohne dokumentierte Abwägung kann keine gerichtsfeste Ableitung einer Maßnahme erfolgen.
- Organisatorisches Risiko: Nicht abgestimmte Versetzungen gefährden bestehende Strukturen, erzeugen Unmut in anderen Abteilungen und schaffen Präzedenzfälle.
- Strategisches Risiko: Wird das BEM als Weg zur Arbeitsplatzveränderung instrumentalisiert, verliert es an Legitimation – sowohl intern als auch extern.

Nachweispflichten und Dokumentationsanforderungen
Ein häufiges rechtliches Dilemma entsteht, wenn der Wunsch eines BEM-Berechtigten nach Versetzung offensichtlich nicht mit dem Rehabilitationsziel vereinbar ist, dies aber nicht offen kommuniziert oder nachvollziehbar dokumentiert wird. In solchen Fällen ist es entscheidend, dass der BEM-Berater professionell agiert – auch und gerade dann, wenn die tatsächlichen Motive des Mitarbeitenden bekannt oder naheliegend sind.
Eine professionelle Herangehensweise könnte z. B. darin bestehen, ein valide Testverfahren anzuwenden, das die vorhandenen bzw. eingeschränkten Fähigkeiten des Mitarbeitenden den Anforderungen des angestrebten Arbeitsplatzes gegenübersetzt. Das daraus resultierende Ergebnis ist objektiv, transparent und für alle Beteiligten nachvollziehbar – und kann vom BEM-Beauftragten weder beeinflusst noch gesteuert werden.
Der große Vorteil: Auch ein enttäuschter Mitarbeitender wird ein solches Verfahren eher akzeptieren, weil die Ablehnung eines Arbeitsplatzwechsels nicht auf subjektiven Einschätzungen basiert, sondern auf objektivierten Daten. Gleichzeitig stärkt ein solcher Umgang die Rechtskonformität des Gesamtverfahrens und entlastet den Arbeitgeber in einem etwaigen Rechtsstreit.
Im Falle eines späteren Klagverfahrens (z. B. bei krankheitsbedingter Kündigung) ist der Arbeitgeber verpflichtet, die BEM-Durchführung detailliert zu dokumentieren. Dazu gehören:
- Zeitpunkt und Form der Einladung
- Beteiligung relevanter Akteure
- Prüfprozess der vorgeschlagenen Maßnahmen
- Ablehnungsbegründungen (sofern Maßnahmen nicht umgesetzt wurden)
Fehlt diese Dokumentation oder wurde sie fehlerhaft geführt, kann das gesamte Verfahren als nicht ordnungsgemäß angesehen werden – mit negativen Folgen im arbeitsrechtlichen Verfahren.

Das BEM als komplexer Suchprozess
Das BEM ist kein Entscheidungsbaum mit vordefinierten Ja-/Nein-Antworten. Es ist ein strukturierter Suchprozess, der Kommunikations-, Gesundheits- und Rechtsfragen zusammenführt.
Der oft bemühte Vergleich mit dem „gordischen Knoten“ trifft den Kern: BEM-Fälle lassen sich jedoch nicht mit einem einzigen Schnitt lösen, sondern erfordern strukturierte, rechtskonforme und empathische Gesprächsführung.
Zwei Kompetenzdimensionen im BEM-Gespräch
BEM-Gespräche sind anspruchsvoll – sie verlangen Fachlichkeit auf zwei Ebenen:
- Gesprächsführung & Gesprächstechnik
- Professioneller Umgang mit Erwartungshaltungen
- Strukturierte Exploration der Belastungen und Ressourcen
- Umgang mit Widerstand, Frustration und unrealistischen Annahmen
- Rechtliches Verständnis & Verfahrenssicherheit
- Kenntnis der arbeitsrechtlichen Anforderungen
- korrekte Dokumentation
- differenzierte Bewertung vorgeschlagener Maßnahmen
Handlungsempfehlungen für HR und Fallverantwortliche
- Professionalisierung durch gezielte Fortbildungen: BEM-Gespräche benötigen juristische, kommunikative und gesundheitsbezogene Kompetenzen.
- Fallbegleitendes Coaching: Besonders bei komplexen Konstellationen sollten Fachkräfte externe Expertise einbeziehen.
- Verwendung standardisierter Tools: Etablierte Dokumentationsvorlagen, Entscheidungsbäume und Gesprächsleitfäden helfen, das Verfahren objektiv und nachvollziehbar zu gestalten.
- Klares Erwartungsmanagement: Bereits in der Einladung und im Erstkontakt sollte kommuniziert werden, dass BEM keine Wunschliste ist, sondern ein gesetzlich geregelter Suchprozess.
Klare Rollendefinitionen im Team: Fallmanager, Personalabteilung, Führungskräfte und medizinische Dienste sollten arbeitsteilig, aber abgestimmt agieren.

Schlussfolgerung: Rechtskonformes BEM braucht Struktur und Qualifikation
Dieser Beitrag wendet sich ausdrücklich nicht an Unternehmen, die das BEM lediglich als Pflichtübung oder gar als Mittel zur Vorbereitung krankheitsbedingter Kündigungen verstehen. Vielmehr richtet er sich an verantwortungsbewusste Entscheider:innen, die das Potenzial des BEM als rechtskonformen Suchprozess erkennen – und dafür klare Strukturen, qualifizierte Fachkräfte und transparente Prozesse etablieren möchten.
Wird das BEM als Plattform für Arbeitsplatzwünsche verstanden, gerät der gesetzliche Rahmen aus dem Blick. Das gefährdet nicht nur die rechtliche Verwertbarkeit, sondern auch die Glaubwürdigkeit des gesamten Verfahrens.
BEM ist kein Wunschkonzert und auch kein HR-Instrument zur Stellenverteilung. Es ist ein rechtsverbindlicher, strukturierter und ergebnisoffener Suchprozess zur Vermeidung von Kündigungen.
Professionell geführte Verfahren mit qualifizierten Akteuren sind der beste Schutz vor juristischen Risiken und strategischem Vertrauensverlust.
Wer BEM-Prozesse strukturiert aufsetzen möchte, findet in unserer Online-Ausbildung zum BEM-Beauftragten, unserer BEM-Prozessberatung sowie im fallbegleitenden Coaching praxisnahe und rechtlich fundierte Unterstützung.
Über den Autor
Manfred Baumert, MBA, ist Betriebswirt, Pädagoge, zertifizierter Case Manager und BEM-Berater mit mehrjähriger Führungserfahrung als Geschäftsführer im Gesundheits- und Sozialwesen. Er kennt die Herausforderungen komplexer Versorgungssysteme aus erster Hand – sowohl aus der strategischen als auch aus der praktischen Perspektive.
Ausgebildet in personenzentrierter Gesprächsführung nach C. R. Rogers und erfahren in der Krisenintervention verbindet er juristische, wirtschaftliche und psychologische Perspektiven zu tragfähigen Lösungen im Betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM).
Mit interdisziplinärer Qualifikation in Betriebswirtschaft, Sozialwesen und Personaldiagnostik begleitet er Unternehmen jeder Branche beim Aufbau rechtlich fundierter und zugleich praxisnaher BEM-Prozesse – passgenau auf betriebliche Strukturen zugeschnitten.
Sein Schwerpunkt liegt auf nachhaltiger Wiedereingliederung statt formaler Pflichtprogramme: lösungsorientiert, wirtschaftlich wirksam und mit klarer Wirkung gegen den Fachkräftemangel.
Regionale BEM Kompetenz bundesweit: Unsere Angebote gelten bundesweit – mit regionalem Schwerpunkt in Kassel, Dortmund, Hannover, Fulda und Würzburg.
2benefit GmbH Wir verbinden Recht, Gesundheit und Menschlichkeit – für nachhaltige Lösungen, die alle Beteiligten stärken.
FAQ zu BEM-Maßnahmen: rechtssicher handeln, strukturiert entscheiden
Nein. Mitarbeitende dürfen Vorschläge einbringen, haben jedoch keinen Rechtsanspruch auf eine bestimmte Maßnahme. Gemäß § 167 Abs. 2 SGB IX ist der Arbeitgeber verpflichtet, alle ernsthaft in Betracht kommenden Maßnahmen zu prüfen, nicht jedoch zu gewähren. Entscheidend ist, ob eine Versetzung geeignet, erforderlich und zumutbar im Sinne der Wiedereingliederung ist.
Für solche Fragen empfehlen wir unsere BEM Online Tagesseminare, die Ihre Verfahren juristisch und praktisch absicheren.
Mit strukturierter Gesprächsführung und klarer Rollenklarheit: Erwartungen sollten nicht vorschnell abgelehnt, aber auch nicht unkritisch übernommen werden. Stattdessen empfiehlt sich eine sachliche, nachvollziehbare Prüfung – idealerweise mithilfe eines eignungsdiagnostischen Verfahrens, das objektiv zeigt, ob die gewünschten Tätigkeiten zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit beitragen.
Gerade in heiklen Fällen hilft unser fallbegleitendes Coaching im BEM, um professionell, empathisch und rechtssicher zu agieren.
Ja – sofern die Ablehnung begründet und dokumentiert ist. Der Arbeitgeber muss darlegen können, warum die Maßnahme nicht zur Wiedereingliederung geeignet ist oder organisatorisch nicht realisierbar war. Eine pauschale Ablehnung ist jedoch nicht zulässig – es muss ein individueller, dokumentierter Prüfprozess stattfinden.
Wie Sie Ablehnungen dokumentationssicher und nachvollziehbar gestalten, erfahren Sie in unseren BEM Online Tagesseminaren.
Durch konsequente Schulung der BEM-Fallverantwortlichen, einheitliche Prozessstandards, dokumentierte Prüfverfahren und ein klares Erwartungsmanagement bereits bei der Einladung. Zudem helfen Coaching-Elemente oder externe BEM-Beratung, um bei heiklen Konstellationen professionell zu bleiben.
Mit unseren Inhouse-Seminaren oder BEM Online Tagesseminaren schulen Sie Ihr BEM-Team für professionelle Frühintervention und strukturiertes Handeln.
Ja – sofern sie datenschutzkonform erfolgen und das Verfahren transparent, freiwillig und sachlich gerechtfertigt ist. Ein solches Verfahren kann die Eignung des Mitarbeitenden für bestimmte Tätigkeiten objektiv abbilden und ermöglicht eine faire, nachvollziehbare Entscheidung.
Wir begleiten Sie gern im Rahmen eines fallbegleitenden Coachings, wenn Sie strukturierte Verfahren wie Eignungsanalysen datenschutzkonform einsetzen wollen.
- Rechtssicherheit im Streitfall
- Vermeidung von Betriebsirritationen durch ungeplante Wechsel
- Schutz der internen Fairnesskultur
- Verstärkung der Vertrauenskultur, weil nachvollziehbar entschieden wird
- Langfristige Stabilität in der Wiedereingliederung und Personalbindung
Für nachhaltige Struktur- und Kompetenzentwicklung empfehlen wir die Kombination aus BEM-Prozessberatung und Online-Ausbildung zum BEM-Beauftragten.